Sommer 2023 in London: Notting Hill Karneval

 

Der gleichnamige Film machte den Londoner Stadtteil weltberühmt: Notting Hill ist das Viertel der Lebenskünstler, Reichen und Kreativen und der Veranstaltungsort einer multi-kulti Parade, die in England ihresgleichen sucht.  Der diesjährige Notting Hill Karnveal 2023 mit karibischen Einflüssen findet am 27. August und 28. August 2023 statt. Er ist einer der größten Straßenkarnevale der Welt. Der erste Karneval in Notting Hill im Jahr 1959 war eine Reaktion auf Rassenunruhen in dem Londoner Stadtviertel im Jahr zuvor.

Jedes Jahr am letzten Wochenende im August zieht das Faschingsspektakel mehr als eine Million Menschen an. Rund 50.000 Artisten, Tänzer und Verkleidungskünstler feiern, tanzen und zeigen ihre Kunststücke in den Straßen.

Es gibt wohl keinen besseren Ort für den sommerlichen Faschingsumzug als den westlichen Stadtteil Londons. Notting Hill ist genauso bunt und verrückt wie der Karneval selbst. Das Viertel lebt von seinen Gegensätzen: Künstler fühlen sich hier wohl, Auswanderer und Londons Reiche. Der gleichnamige Hollywood-Film mit Hugh Grant als mittellosem Buchladenbesitzer und Julia Roberts als millionenschwerem Filmstar machte Notting Hill vor 20 Jahren weltberühmt. Seither übt der Stadteil mit dem samstäglichen Antiquitätenmarkt auf Besucher aus der ganzen Welt eine geradezu magische Anziehungskraft aus.

Schon am späten Samstagvormittag schieben sich die Schnäppchen- und Fotojäger von der U-Bahnstation Notting Hill Gate in Richtung Portobello Road. Vorbei an den klassischen Touristen- und Vintage-Läden, in denen es von Sneakers in den Farben des Union Jack bis zu hippen Babystramplern alles zu kaufen gibt.

Zum Markttrubel am Wochenende hat jeder Bewohner von Notting Hill so seine eigene Meinung. Während sich die einen die ruhigen Tage früherer Zeiten zurückwünschen und sich hupend den Weg durch die tausenden Besucher bahnen, können sich andere das Leben ohne Trubel nicht mehr vorstellen.

Die Portobello Road zieht sich von Süden nach Norden quer durch Notting Hill. Am Wochenende herrscht hier Ausnahmezustand. Direkt nach den bunten Häuserfronten, ein beliebtes Motiv für Instagram-Bilder, startet der eigentliche, fast einen Kilometer lange Straßenmarkt. Vor den Antiquitäten-, Tattoo- und Kunstgeschäften sind hunderte Flohmarktstände aufgebaut. „Sale“- und „Local Artist“-Poster, wie auch Charlotte Reed eines hat, wechseln sich ab mit „No Photo“-Schildern. Ein Mädchen, leuchtend grün gefärbte lange Haare, schwarzer Minirock, sitzt vor einem Hutgeschäft und löffelt zwischen den Selfie-Jägern seelenruhig ihr Frühstücks-Porridge. An der gegenüberliegenden Ecke stimmt ein Straßenmusikant „Valerie“ von Amy Winehouse an. Hugh Grant lächelt ihm zu. Als leicht verblichene Metallplakette an einem Souvenirstand.

Je weiter man die Straße hinunter geht, umso mehr steigt einem unweigerlich der Duft von Essen in die Nase. Notting Hill ist nicht nur ein Mekka für Film-, und Antiquitäten-Liebhaber, sondern auch für Street Food-Fans. An mehr als hundert Ständen gibt es alles von italienischer Pasta über thailändische Nudeln bis hin zu karibischen Eintöpfen und Reisgerichten aus Ghana. Es kocht und dampft aus den Töpfen. Der Duft von Curry vermischt sich mit dem von italienischen Kräutern, von Koriander und frischen Nutella-Crepes. Neben einem Hot Dog-Stand gibt es vegane Cupcakes. In einer riesigen Pfanne brutzelt Paella. Gegenüber sind auf einer Theke frisch gepresste Säfte und Obstbecher für zwei Pfund pro Stück aufgetürmt. Die meisten Verkäufer arbeiten die ganze Woche über auf Märkten in ganz London. Am Wochenende trifft man sich in Notting Hill. Spätestens ab Mittag herrscht Hochbetrieb.

Einer der bekanntesten Läden im Stadtviertel befindet sich in der Talbot Road. Bei „Rough Trade West”, wo Sängerin Adele („Rolling in the Deep“) vor zehn Jahren an der Kasse stand, wühlen sich Vinyl-Fans durch die Bestände. Zu finden ist hier alles von David Bowie bis hin zu Rock, Hip Hop; Klassiker ebenso wie limitierte Pressungen bekannter Bands und Erstlingswerke von Newcomern aus London.

Immer wieder treten inmitten der Platten- und CD-Regale auch Bands auf. Die Wände des zweistöckigen Ladens sind mit Album- und Konzertpostern zugepflastert. Es gibt Plattenspieler zum Probehören und auf den Vinyl-Covern kurze Beschreibungen zum jeweiligen Künstler.

Die Kundschaft ist ebenso bunt gemischt wie die Verkäufer hinter der Theke: Vom Klischee-Hipster bis zum ergrauten Rocker, der schon vor Jahrzehnten Platten gesammelt hat, sind bei „Rough Trade” alle vertreten.

Einer der bekanntesten Traditionsläden des Stadtviertels ist „Alice’s”, gleich am Anfang der Portobello Road: Die knallrote Fassade des Eckhauses sticht schon von weitem ins Auge, ebenso die aufgetürmten Antiquitäten vor dem Eingang. Zwischen alten Gemälden steht ein Kinderfahrrad, daneben ein Tisch mit blümchenverzierten Teekannen und Tassen. Auf Lederkoffern und Holzboxen mit „Portobello”-Aufdruck sitzen pinke Flamingos. Es gibt so gut wie nichts, das es im „Alice’s” nicht gibt. Von der Decke hängen Retro-Lampen, aber auch Modellflugzeuge und ein riesiger Teddybär. Die Regale sind vollgestopft mit Vasen, Blechschildern und Kerzenhaltern. Auf einem Tisch steht, halb verdeckt durch leicht vergilbte Landkarten, ein Globus.

Das „Alice’s” ist seit seiner Eröffnung 1887 in Familienhand, inzwischen in vierter Generation. „Ursprünglich war es ein so genannter ,Rag and Bone‘-Laden, in dem Bewohner ihren Hausrat abgeben konnten. Die Räume wurden aber schon damals regelmäßig an Antiquitätenhändler vermietet”, erzählt Jil, die Tante des aktuellen Geschäftsführers, die hier regelmäßig an der Kasse sitzt.

In den 1960er-Jahren sattelte das „Alice’s” endgültig um. Seither trudeln täglich persönliche Erinnerungsstücke aus dem ganzen Land ein: „Den Preis, für den wir sie weiterverkaufen, legt der Besitzer selbst fest.” Am Wochenende tummeln sich im Laden vor allem Souvenirjäger, das „Alice’s” zieht aber auch echte Antiquitätensammler an. „Ich komme mehrmals pro Jahr her”, sagt eine Holländerin, die originelle Möbelstücke für ihre Wohnung in Amsterdam sucht.

Das „Alice’s” erinnert an die Zeit, als Notting Hill nicht das hippe Trendviertel war, sondern eine ländliche Region. Bis hinein ins 19. Jahrhunderts lebten hier Bauern auf ihren Höfen. Selbst die Portobello Road verdankt ihren Namen einer Farm. Als sich London dann langsam gegen Westen hin ausdehnte, siedelten sich die ersten Städter an. Viele waren Künstler, Einwanderer oder beides, die sich hier niederließen, weil die Mieten für Londoner Verhältnisse günstig waren. Der Portobello Road Market diente ihnen als kleiner Nahversorger-Markt. Ab den späten 1940er-Jahren bauten neben den Obst- und Gemüsehändlern, die heute noch wochentags das Bild prägen, auch vermehrt umliegende Antiquitäten-Geschäfte ihre Stände auf.

Notting Hill war lange ein Bezirk mit etwas zweifelhaftem Ruf, in dem sich hinter den hübschen Häuserfassaden die Slums bildeten. Londons Oberschicht wohnte lieber zentraler, etwa in Mayfair. Seinen negativen Höhepunkt erreichte das Viertel im Spätsommer 1958, als es zu rassistisch motivierten Straßenschlachten kam. In den 1960iger Jahren wurde das Viertel wiederentdeckt. Daran hatte auch der Notting Hill Karneval seinen Anteil. Er trug dazu bei, dass sich Notting Hill während der „Swinging Sixties” bei Künstlern und Anhängern alternativer Lebensstile zur begehrten Wohnlage entwickelte.

Inzwischen lassen sich die mittellosen Lebenskünstler an einer Hand abzählen. Seit den frühen 1990er-Jahren sind die Mieten stetig gestiegen. Notting Hill zählt inzwischen zu den teuersten Bezirken der britischen Hauptstadt. Lange vorbei sind die Zeiten, als sich ganzen Familien in einem einzigen Raum zusammendrängten. Das Straßenbild wird bestimmt von bunten, herausgeputzten viktorianischen Häusern mit schmucken Gärten und unzähligen kleinen Läden dazwischen. Viele Gärten sind privat. Zu den öffentlich zugänglichen Gärten und Parkanlagen zählen Wormwood Scrubs, Emslie Horniman´s Pleasance und Kyoto Garden als Teil des größeren Holland Park.

Kyoto Garden ist ein traditioneller, japanischer Garten mit kleinen Wasserfällen, Teichen und japanischen Statuen. Wormwood Scrubs liegt nordwestlich von Notting Hill und wird schon seit 140 Jahren für Freizeitvergnügen genutzt.

Abseits der Touristenströme in der Portobello Road findet der Alltag der Bewohner statt. In der Kensington Park Road, der Rosmead Road oder der Lansdowne Road reihen sich die Häuser aneinander, allesamt postkartenreif herausgeputzt in strahlendem Weiß und in Pastelltönen. Die Türen leuchten in Hellblau, in Rosa und in Grün. Die Landsdowne Road ist einer der Drehorte für den Hollywoodfilm mit Hugh Grant und Julia Roberts, der Notting Hill berühmt machte.

Vor den Eingängen sprießen die Frühlingsblumen in den Gärten. Auf der Straße parken Porsches, Mercedes und so mancher Ferrari. Statt Hupgeräuschen hört man hier Vogelgezwitscher und leise Musik aus gemächlich vorbeifahrenden Autos. Ein Pärchen spaziert mit dem Kinderwagen vorbei, eine ältere Dame mit ihrem Hund. Kaum vorstellbar in dieser Kleinstadtidylle, dass das hektische Zentrum Londons gerade einmal ein paar U-Bahn-Stationen entfernt ist.

Die meisten Bewohner haben ihre Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Privatsphäre wird hier groß geschrieben. Kein Wunder: Wer in Notting Hill wohnt, darf Manager, Multimillionäre und Stars zu seinen Nachbarn zählen.

www.thelondonnottinghillcarnival.com

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