Auf den Gehsteigen schwenken die Zuschauer die Fahnen, und blasen in die Tröten, die ein Straßenhändler an der Ecke für ein paar Pfund verkauft. Tänzerinnen und Tänzer lassen die Hüften im Takt der Reggae-Musik kreisen. Sie strecken ihre gelben Pompons nach oben, bewegen die Lippen zur Musik. Das kunstvoll gefertigte, fächerförmige Federrad an ihren Rücken wippt bei jedem Schritt mit. Es ist Karneval in Notting Hill.
Jedes Jahr am letzten Wochenende im August zieht das Faschingsspektakel mehr als eine Million Menschen an. Rund 50.000 Artisten, Tänzer und Verkleidungskünstler feiern, tanzen und zeigen ihre Kunststücke drei Tage lang in den Straßen.
Es gibt wohl keinen besseren Ort für den sommerlichen Faschingsumzug als den westlichen Stadtteil Londons. Notting Hill ist genauso bunt und verrückt wie der Karneval selbst. Das Viertel lebt von seinen Gegensätzen: Künstler fühlen sich hier wohl, Auswanderer und Londons Reiche. Der gleichnamige Hollywood-Film mit Hugh Grant als mittellosem Buchladenbesitzer und Julia Roberts als millionenschwerem Filmstar machte Notting Hill vor 20 Jahren weltberühmt. Seither übt der Stadtteil mit dem samstäglichen Antiquitätenmarkt auf Besucher aus der ganzen Welt eine geradezu magische Anziehungskraft aus.
Doch Notting Hill ist das ganze Jahr über ein beliebtes Ausflugsziel und nicht nur zum Notting Hill Karneval. Die Märkte sind berühmt. Schon am späten Samstagvormittag schieben sich die Schnäppchen- und Fotojäger von der U-Bahnstation Notting Hill Gate in Richtung Portobello Road. Vorbei an den klassischen Touristen- und Vintage-Läden, in denen es von Sneakers in den Farben des Union Jack bis zu hippen Babystramplern alles zu kaufen gibt.
Zum Markttrubel am Wochenende hat jeder Bewohner von Notting Hill so seine eigene Meinung. Während sich die einen die ruhigen Tage früherer Zeiten zurückwünschen und sich hupend den Weg durch die tausenden Besucher bahnen, können sich andere das Leben ohne Trubel nicht mehr vorstellen.
Die Portobello Road zieht sich von Süden nach Norden quer durch Notting Hill. Am Wochenende herrscht hier Ausnahmezustand. Direkt nach den bunten Häuserfronten, ein beliebtes Motiv für Instagram-Bilder, startet der eigentliche, fast einen Kilometer lange Straßenmarkt. Vor den Antiquitäten-, Tattoo- und Kunstgeschäften sind hunderte Flohmarktstände aufgebaut. „Sale“- und „Local Artist“-Poster, wie auch Charlotte Reed eines hat, wechseln sich ab mit „No Photo“-Schildern. Ein Mädchen, leuchtend grün gefärbte lange Haare, schwarzer Minirock, sitzt vor einem Hutgeschäft und löffelt zwischen den Selfie-Jägern seelenruhig ihr Frühstücks-Porridge. An der gegenüberliegenden Ecke stimmt ein Straßenmusikant „Valerie“ von Amy Winehouse an. Hugh Grant lächelt ihm zu. Als leicht verblichene Metallplakette an einem Souvenirstand.
Je weiter man die Straße hinunter geht, umso mehr steigt einem unweigerlich der Duft von Essen in die Nase. Notting Hill ist nicht nur ein Mekka für Film-, und Antiquitäten-Liebhaber, sondern auch für Street Food-Fans. An mehr als hundert Ständen gibt es alles von italienischer Pasta über thailändische Nudeln bis hin zu karibischen Eintöpfen und Reisgerichten aus Ghana. Es kocht und dampft aus den Töpfen. Der Duft von Curry vermischt sich mit dem von italienischen Kräutern, von Koriander und frischen Nutella-Crepes. Neben einem Hot Dog-Stand gibt es vegane Cupcakes. In einer riesigen Pfanne brutzelt Paella. Gegenüber sind auf einer Theke frisch gepresste Säfte und Obstbecher für zwei Pfund pro Stück aufgetürmt. Die meisten Verkäufer arbeiten die ganze Woche über auf Märkten in ganz London. Am Wochenende trifft man sich in Notting Hill. Spätestens ab Mittag herrscht Hochbetrieb.
Die Kundschaft ist ebenso bunt gemischt wie die Verkäufer hinter der Theke: Vom Klischee-Hipster bis zum ergrauten Rocker, der schon vor Jahrzehnten Platten gesammelt hat, sind bei „Rough Trade” alle vertreten.
Die Traditionsgeschäfte erinnern an die Zeit, als Notting Hill nicht das hippe Trendviertel war, sondern eine ländliche Region. Bis hinein ins 19. Jahrhunderts lebten hier Bauern auf ihren Höfen. Selbst die Portobello Road verdankt ihren Namen einer Farm. Als sich London dann langsam gegen Westen hin ausdehnte, siedelten sich die ersten Städter an. Viele waren Künstler, Einwanderer oder beides, die sich hier niederließen, weil die Mieten für Londoner Verhältnisse günstig waren. Der Portobello Road Market diente ihnen als kleiner Nahversorger-Markt. Ab den späten 1940er-Jahren bauten neben den Obst- und Gemüsehändlern, die heute noch wochentags das Bild prägen, auch vermehrt umliegende Antiquitäten-Geschäfte ihre Stände auf.
Notting Hill war lange ein Bezirk mit etwas zweifelhaftem Ruf, in dem sich hinter den hübschen Häuserfassaden die Slums bildeten. Londons Oberschicht wohnte lieber zentraler, etwa in Mayfair. Seinen negativen Höhepunkt erreichte das Viertel im Spätsommer 1958, als es zu rassistisch motivierten Straßenschlachten kam. In den 1960iger Jahren wurde das Viertel wiederentdeckt. Daran hatte auch der Notting Hill Karneval seinen Anteil. Er trug dazu bei, dass sich Notting Hill während der „Swinging Sixties” bei Künstlern und Anhängern alternativer Lebensstile zur begehrten Wohnlage entwickelte.
Inzwischen lassen sich die mittellosen Lebenskünstler an einer Hand abzählen. Seit den frühen 1990er-Jahren sind die Mieten stetig gestiegen. Notting Hill zählt inzwischen zu den teuersten Bezirken der britischen Hauptstadt. Lange vorbei sind die Zeiten, als sich ganzen Familien in einem einzigen Raum zusammendrängten. Das Straßenbild wird bestimmt von bunten, herausgeputzten viktorianischen Häusern mit schmucken Gärten und unzähligen kleinen Läden dazwischen. Viele Gärten sind privat. Zu den öffentlich zugänglichen Gärten und Parkanlagen zählen Wormwood Scrubs, Emslie Horniman´s Pleasance und Kyoto Garden als Teil des größeren Holland Park.
Kyoto Garden ist ein traditioneller, japanischer Garten mit kleinen Wasserfällen, Teichen und japanischen Statuen. Wormwood Scrubs liegt nordwestlich von Notting Hill und wird schon seit 140 Jahren für Freizeitvergnügen genutzt.
Abseits der Touristenströme in der Portobello Road findet der Alltag der Bewohner statt. In der Kensington Park Road, der Rosmead Road oder der Lansdowne Road reihen sich die Häuser aneinander, allesamt postkartenreif herausgeputzt in strahlendem Weiß und in Pastelltönen. Die Türen leuchten in Hellblau, in Rosa und in Grün. Die Landsdowne Road ist einer der Drehorte für den Hollywoodfilm mit Hugh Grant und Julia Roberts, der Notting Hill berühmt machte.
Vor den Eingängen sprießen die Frühlingsblumen in den Gärten. Auf der Straße parken Porsches, Mercedes und so mancher Ferrari. Statt Hupgeräuschen hört man hier Vogelgezwitscher und leise Musik aus gemächlich vorbeifahrenden Autos. Ein Pärchen spaziert mit dem Kinderwagen vorbei, eine ältere Dame mit ihrem Hund. Kaum vorstellbar in dieser Kleinstadtidylle, dass das hektische Zentrum Londons gerade einmal ein paar U-Bahn-Stationen entfernt ist.
Die meisten Bewohner haben ihre Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Privatsphäre wird hier groß geschrieben. Kein Wunder: Wer in Notting Hill wohnt, darf Manager, Multimillionäre und Stars zu seinen Nachbarn zählen.
http://www.thelondonnottinghillcarnival